Predigt zur Karwoche

Liebe LeserInnen,
wenn wir schon keine gewohnten Gottesdienste feiern dürfen, so möchte ich Ihnen trotzdem eine Predigt für den Palmsonntag bzw. die Karwoche übermitteln.
Überschreiben möchte ich sie mit:
 
Liebe verschwenden
 
Markus 14,3-9
 
1
Was uns gestern noch so nah war, auf einmal scheint es ganz weit weg. Was uns vor Wochen sehr bewegt hat, liegt unter dem Schutt des Neuen begraben, das uns gefangen nimmt. Das Schlimme und die Sorgen von gestern, die freilich auch weiterhin die Sorgen von heute sind und bleiben werden: der Klimawandel. Die Morde von Hanau und der hinter ihnen stehende Hass. Die Lager auf Lesbos und in Idlib. Merkwürdig still ist es darum geworden auf der Straße und in den Nachrichten.
 
Und auch das Schöne, Gute, Positive: das Feiern mit Freunden, das gemeinsame Essen und Trinken, der letzte in körperlicher Nähe erlebte Gottesdienst … weit weg, scheint es, und doch, als wäre es gestern gewesen. Doch „gestern“ ist ein relativer Begriff. Manchmal reichen wenige Wochen, Tage, Augenblicke und das „Gestern“ kommt uns vor wie eine Ausgrabung aus uralten Zeiten, weil nichts oder kaum etwas noch so ist, wie es einmal war.
 
Was uns heute bestimmt und alle miteinander verbindet, sind sehr persönliche, man sagt „existenzielle“ Fragen. Werde ich mich anstecken? Und wenn ja, wie wird das bei mir sein? Gehöre ich zu den Glücklichen mit leichtem Verlauf? Oder wird es mir ergehen wie den Menschen auf den Intensivstationen in Bergamo, Madrid und New York, wo vorne die Patienten eingeliefert werden und hinten schon die Gabelstapler warten, die die Leichen zum Kühllaster bringen? Wir wissen ja mittlerweile, dass auch Jugend nicht unbedingt vor so einem schrecklichen Gang der Krankheit schützt. Neben der Sorge um mich, genauso beängstigend oder noch bedrängender: Wie wird es meiner Mutter im Altenpflegeheim/Krankenhaus ergehen? Wie kann ich mit ihr Kontakt aufnehmen, wo ich doch nicht mehr hin darf zu ihr? Was wird aus meiner Arbeitsstelle? Wie lange geht das noch mit unseren Kindern in der engen Wohnung gut? Wann dürfen wir uns wieder normal bewegen draußen? Wann ist dieser ganze schreckliche Spuk endlich vorbei und wie viel Tote wird es dann zu beklagen geben bei uns und in der weiten Welt? Das sind einige der bedrückenden Fragen, die wie eine Zimmerdecke über uns niedergebrochen sind. 
 
Freilich zeigt sich auch hier, selbst hier, Gutes: Mitmenschlichkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und immer wieder auch Humor, der sich der Lage trotzig entgegenstellt. Wer mit dem Internet verbunden ist, bekommt auf einmal Post von Freunden oder Bekannten, von denen lange nichts zu hören war. Sie fragen, wie’s geht, sprechen über ihren Seelenzustand, schicken Bilder und Videos zum Thema Klopapier … Und das gute alte Telefon, wie sehr wird es in Tagen wie diesen wieder zum rettenden Anker für Menschen, die sonst in Einsamkeit versinken würden …
 
2
Wenn ich es böse und sarkastisch sagen wollte: Wir haben 2020 dann mal eine richtige, echte Passionszeit; nicht weit draußen vor der Tür, sondern mitten drin in unserem Wohnzimmer. Eine Passionszeit, wie es sie noch nie gegeben hat außer zu Zeiten der Pest vielleicht – wo Nähe Abstand verlangt und der Arzt von „7 Wochen ohne“ abrät, weil das schlecht fürs Immunsystem sein könnte.
Fern scheint uns alles, was vertraut war, liebgewonnenes Ritual, ehrfürchtig angehörte Geschichte. Am Palmsonntag, wenn Jesus in Jerusalem einzieht, wo sie ihm zujubeln, um tags drauf zu rufen „Kreuzigt ihn“… Jesus, mit Anfang 30 gestorben, ohne Ahnung von Altenheim, Demenz und rasender Lungenentzündung? Kennt er uns? Kennt er auch das? „Sitzend zur Rechten des Vaters“, ein immerhin berührender Gedanke, dass keine Zeit, keine Zukunft, kein Leid ihm ferne sei?
 
Der Predigttext für den Palmsonntag steht im Markusevangelium – und ich muss gestehen, dass der mich wirklich freudig erschüttert und bewegt. Denn so weit weg der Vorgang von unseren Sorgen scheint, so nah ist er ihnen. Und vor allem: Wir erleben in unserer unmittelbaren Gegenwart, dass diese alte Geschichte wirkt wie eine sehr starke Medizin. Und wir können uns mit ihr vor Augen führen, wie dankbar und stolz wir auf das Erbe der Bibel sein dürfen.
 
Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.
 
Worum geht es? Es geht um den Konflikt zwischen Liebe und Wirtschaftlichkeit. Also um genau das, was uns dieser Tage beschäftigt. Diese Frau – sie hat in der Geschichte noch nicht einmal einen Namen – tut etwas nach Maßgabe der Wirtschaftlichkeit Unvernünftiges. Sie tut es aus Liebe, Hinwendung, Fürsorge. Sie setzt Gefühl über Nutzen. Einem Todgeweihten etwas mitgeben, was teuer ist, kostbar. „Unverhältnismäßig“, sagen da „einige“, „Verschwendung!“ – und man kann ihnen das Recht dazu kaum absprechen, zumal sie ja durchaus moralisch argumentieren. Also nicht: Was hätten wir für uns damit alles machen können, sondern „das Geld den Armen geben“.
 
In der Tat: Unsere Regierung (die manchen jetzt in einem ganz anderen Licht erscheinen mag als vor Wochen oder Monaten) – unsere Regierung setzt den Willen des Volkes um nach dem Vorbild des Evangeliums. Aus Liebe und Fürsorge, um derer willen, die alt, geschwächt, schutzlos sind, werden wirtschaftliche Einbrüche in Kauf genommen, deren Ausmaß wir uns kaum vorstellen können. Ja, es ist hart für die „Armen“, in diesem Fall die kleinen und mittleren Firmen, die Gastronomie, der Friseur, die Künstlerin und wie sie alle sind, die durch diese Entscheidung eines weitgehenden „Shutdown“ in Gefahr und Not geraten. 
Täuschen wir uns nicht, indem wir denken: Das sei doch selbstverständlich. Es gibt nicht wenige Stimmen, die von der Liebe der unbekannten Frau rein gar nicht berührt sind. Schon zu Beginn der Corona-Krise schrieb „Frau Meike“ (Bloggerin mit Zehntausenden von Followern), es sei das Wegsterben der Alten doch das Gesündeste, was einer Population geschehen könne. Die Einordnung solchen Denkens überlasse ich Ihnen und sage nur: Ich finde das furchtbar. So ganz anders denken und handeln die, die Verantwortung für uns tragen, Gott sei Dank.
 
3
Wie das dann weitergeht in den nächsten Wochen, nach Ostern? Niemand weiß es.  
Als Christen können wir gemeinsam beten: Um die rechte Fahrt durch den Nebel, auch wenn wir nicht räumlich versammelt sind. Wir können das tun im Blick auf die Geste der Frau, mit der sie Jesus geliebt, geehrt und für seinen schweren Weg gestärkt hat.
 
Ich will mir das wieder einmal bewusst machen, wie wunderbar es ist, dass ich ihm meine Liebe mitgeben darf. Und wie sehr er sie braucht. Wie sehr wir sie brauchen, die seine Spiegelbilder sind. Das Öl auf sein Haupt ist nichts als mein Bestes und Kostbarstes, was ich besitze, nämlich meine Hoffnung und meine Dankbarkeit, dass es diese Geschichte gibt, in die wir alle eingebunden sind. 
Die Geschichte der Liebe. Die Geschichte von Abschied und Schmerz und dunkelster Trauer. Die Geschichte schließlich vom Leben, vom Wiedersehen. Die Geschichte der Liebe. Heute beginnt sie neu.
 
Ich wünsche Ihnen alles Gute, bleiben Sie behütet
Ihr
Pfr. F. König